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Rezensionen

Iain M. Banks: Bedenke Phlebas (1987)

Mit diesem Roman wurde ich glühender Verehrer des sogenannten Kultur-Zyklus. Die Kultur wurde vom schottischen Schriftsteller Iain M. Banks erschaffen und in einer Reihe seiner Weltraumromane und Kurzgeschichten detailliert verarbeitet. Die hier rezensierte Geschichte ist witzig geschrieben und strotzt nur so von Ideen. Leider endet sie doch recht tragisch.

Bevor ich mich auf den Inhalt des Romans stürze, möchte ich vorweg zwei wichtige Fragen behandeln:

  • Was ist die Kultur?
  • Was sind Gehirne?

Das ist meiner Meinung nach notwendig, um wichtige Elemente des Buches bzw. des gesamten Zyklus zu verstehen.

Die Kultur

Die Kultur ist eine fiktive interstellare Metazivilisation, die scheinbar den Großteil unserer Milchstraße bewohnt. Der schriftstellerische Clou daran ist die Tatsache, das die meisten Bürger dieser Zivilisation menschenähnlich sind, es jedoch keine direkte Verbindung zu unserer Erde besteht. Die zeitliche Ebene dieses Romans ist zur Zeit des Mittelalters unserer Erde, also im 14. Jahrhundert nach Christus, angesiedelt.

Zieht man die Kardaschow-Skala als Bezugspunkt heran, dann handelt es sich bei der Kultur um eine Typ-III-Zivilisation, d.h. sie ist annähernd in der Lage, die Gesamtleistung einer Galaxie zu nutzen.

Die Bevölkerung der Kultur besteht hauptsächlich aus panhumanen, außerirdischen Wesen (diese sind den irdischen Menschen in Gestalt meist sehr ähnlich), sowie aus künstlichen, hoch-intelligenten und fühlenden Maschinen (alle Arten von sogenannten Gehirnen und Drohnen) und einer kleineren Anzahl anderer nicht näher beschriebener "außerirdischer" Lebensformen, die sich dieser Gesellschaft angeschlossen haben.

"Die Kultur gehört zu den zehn fortschrittlichsten Zivilisationen der Milchstraße. Die Idiraner besitzen eine ähnlich hoch entwickelte Waffentechnologie, sind aber beispielsweise auf dem Gebiet der Feld-Technik unterlegen. Die Homomda dagegen sind technologisch der Kultur leicht überlegen und, weil älter, auch etwas gereifter. Der Waffengebrauch wird von der grundsätzlich pazifistisch ausgerichteten Kultur nach Möglichkeit vermieden, was sie jedoch nicht daran hinderte, im Idiranischen Krieg (Bedenke Phlebas) diese Waffen unerbittlich zu gebrauchen. Seitdem wird Waffengewalt jedoch nur noch im Rahmen von Missionen der Besonderen Umstände (ist der Geheimdienst), und auch dort nur mit größten Bedenken, gebilligt."

(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Kultur, 30.05.2023)

Der Technologiestand dieser Gesellschaft ist schier unbegrenzt. Die fortgeschrittene Biotechnik der Kultur hat ihre Mitglieder von Krankheit und Leid völlig befreit. Ein zerstörter Körper kann nachwachsen oder völlig neu (nach eigenen Wünschen!) aufgebaut werden, Körper können ihr Geschlecht auf Wunsch ändern und werden hunderte oder gar tausende von Jahre alt. Sterbende können Backups von sich erstellen lassen oder in einer virtuellen Welt weiterleben. Bestimmte Organe sind dazu in der Lage, jederzeit einen Drogencocktail ganz nach Wunsch des Individuums zu produzieren. Energie und Materie sind praktisch unbegrenzt verfügbar, dadurch existieren in der Kultur weder Geld noch Warenwirtschaft.
Die Kultur als Ganzes ist pazifistisch, nomadisch und homogen, Banks schreibt hierbei auch sehr oft von einer hedonistischen Gesellschaft, von der sich ständig Gruppierungen abwenden, aber auch hinzu kommen, je nach persönlicher Einstellung. 

Noch ein Wort zum oben verwendeten Begriff "nomadisch". Die Bevölkerung ist nicht primär auf Planeten angewiesen, der Großteil lebt auf ortsunabhängigen, gigantischen, künstlichen Strukturen, wie Orbitale, Habitate oder die sogenannten ASF (Allgemeine System Fahrzeuge), von denen die größten Milliarden von Menschen beherbergen. 

"Ein Großteil der Kultur-Bewohner lebt auf Orbitalen; diese bilden eine flache Ringstruktur in der Nähe eines Sternes und basieren damit auf einem stark vergrößerten Bishop-Ring. Sie ähneln auch entfernt der Ringwelt von Larry Niven, haben aber einen kleineren Radius. Der Nutzen von Orbitalen liegt in ihrer einfachen Herstellbarkeit (alle nötigen Materialien sind in den Systemen bereits vorhanden) und ihrer perfekten Kontrollierbarkeit. Klima, Ressourcenverteilung, Tag- und Nachtzyklen lassen sich ohne größeren Aufwand steuern."

(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Kultur, 30.05.2023)

Die Gehirne der Kultur

In den Kulturromanen wird immer wieder angedeutet, dass die Maschinen nicht nur die biologischen Einwohner kontrollieren, sondern sie auch vollkommen glücklich machen. Dies bedeutet, der typische Bewohner der Kultur ist damit zufrieden, von künstlichen Intelligenzen kontrolliert zu werden, da diese im Gegenzug dem einzelnen Individuum praktisch alles ermöglichen. Daraus resultiert die ultimative partizipative totalitäre Diktatur.

Die künstlichen Intelligenzen der Kultur lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Drohnen und Gehirne.

Drohnen sind im großen und ganzen Roboter, die in Intelligenz und Verhalten weitestgehend den biologischen Mitgliedern der Kultur gleichen. Die körperliche Größe variiert zwischen wenigen Zentimetern bis zu mehreren Metern. Drohnen sind in der Kultur eigenständige Individuen, mit eigener Persönlichkeit und Rechten. Üblicherweise verfügen sie über Kraftfelder die es ihnen ermöglichen, Gegenstände zu manipulieren. Daneben hüllen Drohnen sich in sogenannte Auren, farbige Felder, mit denen sie ihre Emotionen ausdrücken.

Gehirne sind ungleich mächtiger als alle anderen Kulturbürger, sie sind gottgleich. Ursprünglich von Lebewesen erschaffen, haben diese hyperintelligenten, bewussten Maschinen (in der Form von linsenförmigen Elipsoiden) ihre Schöpfer in ihren geistigen Fähigkeiten längst hinter sich gelassen. Obwohl die Kultur ihrem Wesen nach, eine anarchistische Gesellschaft ist, übernehmen die Gehirne die Rolle von Koordinatoren und Führern. Sie greifen kaum direkt ein, sondern eher beratend und lenkend.

Normalerweise bewohnen und kontrollieren die Gehirne große Kultur-Infrastrukturen und bilden mit diesen eine funktionelle Einheit. In der Mehrzahl leben sie in Raumschiffen (in der deutschen Übersetzung nur "Fahrzeuge" oder "Schiffe" genannt), ebenso wie in Orbitalen oder Habitaten und kontrollieren diese. Mit ihren Passagieren bzw. Bewohnern kommunizieren sie entweder via Terminal oder mittels, höchst individuell gestalteter, Avatare. Die fortschrittlichste Technik stellt allerdings die sogenannte Neurale Borte dar, eine ins Gehirn implantierte Kommunikations- und Speichereinheit, die auch für Persönlichkeits-Backups genutzt wird. Gehirne können problemlos Millionen von Gesprächen parallel führen, gleichzeitig alle Funktionen eines Schiffes aufrechterhalten und währenddessen im Raum des Infinit Jest (eine mathematisch definierte Simulationsdimension) ihren wahren Neigungen nachgehen.

Achtung, SPOILER-Warnung! Der folgende Text enthält eine Inhaltsbeschreibung des Buches.

Inhaltsangabe des Buches

Hintergrund von Bedenke Phlebas ist der bereits etliche Jahre andauernde Krieg zwischen der Kultur und den Idiranern. Beides sind interstellare Zivilisationen, die sich allerdings in ihrer Philosophie radikal unterscheiden. Die Idiraner sind eine dreibeinige, physisch nahezu unsterbliche Spezies, deren Weltsicht und eingefleischter religiöser Fanatismus von ihnen verlangt, das Universum nach den Vorstellungen ihres Gottes zu ordnen. Dabei werden zahllose Zivilisationen entweder unterworfen oder gleich ganz ausgerottet. Die Kultur ist im Gegensatz dazu pazifistisch und anarchistisch, mit einfachen Worten ausgedrückt: Jeder Bürger kann in gewissem Sinne machen, was er möchte.

Künstlerische Darstellung eines Idiraners
(Bildquelle: https://futuredemons.blogspot.com/2016/03/reviewing-idiran-culture-war.html 10.11.2023)

Erzählt wird die Geschichte meist aus der Perspektive eines Wandlers mit dem Namen Bora Horza Gobuchul. Wandler sind eine nahezu ausgestorbene Gattung humanoider Außerirdischer, die über die Fähigkeit verfügen, ihre Physis bis in die Zellen, bis in die elementarsten Elemente herab, vollständig dem Abbild eines beliebigen panhumanen Anderen anzugleichen. Horza kämpft auf Seiten der Idiraner, weil er die komplexe Bindung der Kultur an ihre Gehirne widernatürlich findet. Die Idiraner geben Horza einen Spezialauftrag, den nur er allein durchführen kann: er soll ein junges, unausgebildetes Kultur-Gehirn, das sich auf dem Planeten Schars Welt vor seinen Häschern gerettet hat, aufspüren und den Idiranern übergeben. Der Zugang zu diesem Planet der Toten wird durch ein Dra’Azon kontrolliert, ein übermächtiges, gottähnliches Wesen, das nur Schutzsuchenden und Schiffbrüchigen Einlass gewährt. Da Horza früher einmal zur kleinen, mit Wandlern besetzten Basismannschaft auf Schars Welt gehörte, ist er die einzige Hoffnung der Idiraner, diese Welt betreten und das Gehirn requirieren zu können.

Das Buch beginnt mit einem sehr action-geladenen Auftakt. Bora Horza Gobuchul, der für seine idiranischen Auftraggeber einen hohen Funktionär in der Gerontokratie von Sorpen verkörpert, wird von einer Agentin der Kultur-Geheimdienst-Sektion Besondere Umstände, enttarnt. Mit Hilfe seiner Auftraggeber entkommt er nur knapp dem Tod; das Schiff der Idiraner, das ihn rettet, wird kurz darauf von einem Kultur-Kreuzer aufgebracht. Damit er nicht gefangen oder getötet werden kann, wirft der Kommandant Horza kurzerhand, mit einem Signalgeber und einem Survivalpack versehen, ins All. Bevor ihn die idiranische Flotte wie geplant an Bord nehmen kann, wird er von dem Freibeuter-Schiff Clear Air Turbulence (oder kurz "CAT") aufgelesen.

Auch hier entgeht er nur knapp seinem Tod und kämpft sich in die Mannschaft des Raumschiffes. Er beginnt eine Beziehung mit einem der weiblichen Mitglieder, Yalson, und sondiert seine Lage und die Chancen, seinen Auftrag weiterhin durchzuführen. Kraiklyn, der Kapitän der CAT, ist als Anführer glücklos und seine Devise „Schnell rein, schnell raus“ wird zum geflügelten Wort für missglückte Operationen. Nach dem fehlgeschlagenen Überfall auf einen Tempel eines abgelegenen Planeten fliegt die CAT zum Orbital Vavatch, das gerade von der Kultur evakuiert und anschließend von dieser vernichtet werden soll, damit es den immer weiter vorrückenden Idiranern nicht im Krieg als Operationsbasis dienen kann. Yalson erklärt dies folgendermaßen.

»Du wirst doch wissen, daß die Idiraner durch die ganze innere Flanke des Golf vorrücken – durch die Glitzerwand. Anscheinend läßt sich die Kultur der Abwechslung halber auf ein bißchen Kampf ein oder bereitet sich doch zumindest darauf vor. Erst sah es aus, als kämen sie zu einer ihrer üblichen Vereinbarungen und würden Vavatch zum neutralen Territorium machen. Diese religiöse Einstellung der Idiraner zu Planeten bedeutet, daß sie an dem O solange kein richtiges Interesse hatten, wie die Kultur-Leute nicht versuchten, es als Basis zu benutzen, und sie versprachen, das würden sie nicht tun. Scheiße, mit diesen verdammt großen System-Schiffen, die sie heutzutage bauen, brauchen sie doch gar keine Basen auf O oder Ringen oder Planeten oder sonst etwas… Nun, all die verschiedenen verrückten Typen auf Vavatch glaubten, fein heraus zu sein und von dem galaktischen Feuergefecht um sie herum gar nicht berührt zu werden… Dann verkündeten die Idiraner, daß sie Vavatch nun doch übernehmen wollten, wenn auch nur nominell, ohne militärische Besetzung. Die Kultur-Leute sagten, das ließen sie nicht zu; beide Seiten weigerten sich, von ihren hochgehaltenen Prinzipien abzugehen, und die Kultur sagte: ›Okay, wenn ihr nicht nachgeben wollt, werden wir das Orbital sprengen, bevor ihr hinkommt.‹ Und genau das geschieht jetzt. Bevor die idiranische Flotte da sein kann, wird die Kultur das ganze verdammte O evakuieren und es dann sprengen.«

(Quelle: Bedenke Phlebas; Banks, Iain M. (1987), Seite 98)

Kraiklyn will auf dem Orbital aus einem havarierten Megaschiff funktionstaugliche Buglaserwaffen herausholen. Bei diesem Projekt werden die Freibeuter schwer dezimiert und schließlich voneinander getrennt. Nach einem Zwischenspiel als Schiffbrüchiger bei einer Gruppe fanatisch geisteskranker Kannibalen gelingt es Horza, Kraiklyn wieder aufzuspüren. Der Wandler tötet Kraiklyn, übernimmt rechtzeitig vor der Orbitalsprengung mit dessen Identität die Clear Air Turbulence und fliegt mit den verbleibenden Besatzungsmitgliedern zu Schars Welt.

Künstlerische Darstellung der Ankunft der CAT am Vavatch Orbital
Bildquelle: Alex Jay Brady (https://www.deviantart.com/skydoo/art/Clear-Air-Turbulence-1639109 22.11.2023, seine Homepage: https://www.artstation.com/boac)

Künstlerische Darstellung der Zerstörung des Vavatch Orbitals
Bildquelle: Alex Jay Brady (https://www.reddit.com/r/TheCulture/comments/w6x5gi/the_destruction_of_vavatch/ 22.11.2023, seine Homepage: https://www.artstation.com/boac)

Das Mädchen Fal ’Ngeestra ist einer von lediglich 30 besonderen Kulturbürgern (unter etwa 500 Milliarden), die in der Lage sind, innerhalb gegebener Fakten wahrscheinliche Ereignisvorhersagen zu treffen. Sie nennt für die Problemlösung auf Schars Welt die Namen Perosteck Balveda, das Vavatch Orbital und Kraiklyn. Daraufhin erhält die Kulturagentin Perosteck Balveda den Auftrag, die Freibeuter zu infiltrieren und schafft es noch rechtzeitig auf die CAT.

Der Dra’Azon gestattet der CAT, auf Schars Welt zu landen. Horza findet die Mannschaft der Wandler-Basis ermordet, unter ihnen seine ehemalige Geliebte. Einer kleinen Gruppe Idiraner ist es offenbar gelungen, die Stille Barriere um den Planeten zu durchbrechen und sich auf die Suche nach dem Gehirn zu machen.

Im tief unter der Oberfläche des Planeten vergrabenen Kommandosystem einer ausgestorbenen Zivilisation suchen nun die Freibeuter unter Horzas Führung nach den Idiranern und dem sich versteckt haltenden Kultur-Gehirn. Horza muss schmerzhaft feststellen, dass die Idiraner nicht seine Verbündeten sind, und ihm werden die extrem unangenehmen Wesenszüge ihres fanatischen Rassismus klar. Zu der sich anbahnenden Loyalitätskrise gesellt sich eine persönliche Identitätskrise. Nach und nach werden die Mitglieder seines Teams getötet, bis zum Schluss nur noch Perosteck Balveda und eine kleine Reparaturdrohne auf Horzas Seite übrig sind. Schwer verletzt und verzweifelt stirbt Horza schließlich in Perostecks Obhut. Es gelingt der Kultur-Agentin, das traumatisierte Kultur-Gehirn zu bergen und Schars Welt zu verlassen.

Nach dem Ende des Krieges nimmt das geborgene Gehirn den Namen des toten Wandlers an: Bora Horza Gobuchul. Von einer neugierigen Touristin auf diesen merkwürdigen Namen angesprochen endet das Buch mit den Sätzen: „Das ist eine lange Geschichte … [...] Ich liebe lange Geschichten“.

 

Heyne, Kultur, Iain M. Banks, Science Fiction