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Rezensionen

Stephen Baxter: Der Orden (2003)

Uralter Tempel

Dies ist der erste Teil des „Kinder des Schicksals“-Zyklus von Stephen Baxter, der im selben literarischen Universum wie dessen Xeelee-Romane spielt. Der Text selbst liest sich sehr gut, von allen bisherigen Baxter-Büchern finde ich hier die Charaktermodellierung am besten gelungen.

In „Der Orden“ geht es um die Familie von Michael Poole, im Detail um eine Sagengestalt aus dem fünften Jahrhundert namens „Regina“ und um George Poole, der in der Gegenwart (des Lesers) nach seiner verschwundenen Zwillingsschwester sucht.

Das Artikelbild zeigt den Eingang zu einem der Ordenstempel, so wie ich ihn mir beim Lesen vorstellte.

Achtung, SPOILER-Warnung! Der folgende Text enthält eine Inhaltsbeschreibung des Buches.

Ein wichtiger Teil des Romans beschäftigt sich mit der Lebensgeschichte von Regina. Sie war die Nachfahrin einer bürgerlichen, römischen, gut situierten Familie im fernen Britannien des fünften Jahrhunderts nach Christi Geburt. Bereits mit jungen Jahren erfuhr sie einen Schicksalsschlag nach dem anderen, ihr Weg führte sie nach dem Selbstmord des Vaters anfänglich bis zum sagenhaften Hadrianswall der Römer gegen die nördlichen Barbaren in England. Ihre überforderte Mutter lies sie als Kind in Stich. Immer wieder erlebte sie für kurze Zeit Sicherheit, die in jenen fürchterlichen, unsicheren Zeiten nur von kurzer Dauer war, und durch weitere Schicksalsschläge zunichte gemacht wurde. Dabei festigte sich in ihrem Herzen die unumstößliche Notwendigkeit, für ihre Familie (nicht für eine einzelne Person oder gar für sich selbst, sondern für ihre gesamte zukünftige Nachkommenschaft als solches) einen Hort der Sicherheit und des Überlebens, also ein überdauerndes Heim zu finden, dass ihren Nachfahren über die Generationen hinweg Schutz bitten konnte. Diese Idee brannte sich mit den Jahren in ihren Geist ein. Nichts war ihr so wichtig, wie die Sicherung der nachfolgenden Generationen, alles wurde diesem Ziel untergeordnet. Schließlich - nachdem sie die Jungfräulichkeit ihrer eigenen Tochter an einen grässlichen Kaufmann verkaufte - gelangte sie nach Rom, wo sie mit Hilfe des Kultes ihrer Mutter ihr Ziel verwirklichen konnte. In den verborgenen Katakomben des Ordenshauses etablierte sich die eingeschworene Gemeinschaft, und grub sich dabei immer tiefer in den Untergrund.

Der Teil rund um Regina ist interessant, denn ich persönlich kann ihre Angst vollkommen nachvollziehen.
Was ist das Ziel des Lebens? Gibt es überhaupt ein Ziel? Wie kann man für die eigene Familie Sicherheit über Jahrzehnte, nein, über Jahrhunderte bieten?
Dies scheint für Normalsterbliche (wie ich einer bin) vollkommen unmöglich zu sein. Wenn aber ausreichend finanzielle Mittel oder (wie eben in diesem Roman thematisiert) ausreichend Durchsetzungskraft vorhanden wären, könnte man heutzutage z.B. eine Stiftung mit dem Ziel gründen, den eigenen Nachkommen monatlich eine bestimmte Leibrente zu garantieren. Okay, das sehe ich derzeit noch als eine relativ realistische Möglichkeit, für die langfristige Zukunft vorzusorgen, um der Grundidee dieses Buches zu entsprechen.

Baxter’s Ideen dazu gehen jedoch noch um ein Vielfaches weiter. Er berichtet von einer Gruppe von Menschen, die sich in einer hoffnungslosen Situation zusammen findet, sich auf bestimmte, extrem strenge Regeln einigt und in einer für die Physis von Menschen ungewöhnlichen (unterirdischen) Atmosphäre lebt. Diese Gruppe, genannt „Der Orden der Heiligen Maria“ entwickelt sich über die Jahrhunderte zu einem eigenen, selbstorganisierten Organismus, der übergeordnete Ziele verfolgt. Ähnlich Ameisenvölker handeln die Mitglieder im Laufe der Jahrhunderte nicht mehr für die eigenen Bedürfnisse, sondern ausschließlich für das Wohl der Gruppe bzw. der Gemeinschaft. Dieses soziale Gebilde hat keinen Kopf, keinen Befehlshaber, sämtliche gesetzten Handlungen entwickeln sich aus den Aktionen und Reaktionen dieses sozialen Gebildes, immer mit dem vorherrschenden Ziel, dass die Gemeinschaft für die Zukunft überlebt.

Aber kehren wir zum Handlungsablauf des Buches zurück. Regina`s Teil ist ja nur ein Aspekt des Buches, der zweite große Bereich behandelt die Gegenwart von George Poole und seiner Familie, insbesondere die Suche nach seiner verschollenen Schwester, Rosa, die mittlerweile eine hohe Position in der Jahrhunderte alten Organisation von Regina hat.

„Er findet Rosa in Rom, wo sie einem mysteriösen Orden angehört, der sich vordergründig der Ahnenforschung verschrieben hat. Wie er etwas später aus der Biografie seiner Urahnin Regina aus dem Jahr 476 – deren Leben parallel erzählt wird – erfährt, handelt es sich bei dem Orden um etwas ganz anderes: ein genetisches Experiment, das eine separate Evolution des Menschen eingeleitet hat. Poole erkennt mit größter Faszination, dass die rund 10.000 Mitglieder des Ordens seine wahre Familie sind. Doch jemand hat entschieden etwas gegen Abweichler.“
(Quelle: http://buchwurm.org/baxter-stephen-orden-der-kinder-des-schicksals-1-11937/, 14.01.2023)

Der Handlungsstrang der Gegenwart erinnert etwas an Spionagegeschichten a`la Dan Brown`s Illuminati, ist aber durchwegs spannend geschrieben. Der Abschluss in der Gegenwart ist aber nach meiner Einschätzung doch etwas zu unrealistisch ausgefallen. Da dringt der nerdige Freund von Poole vollkommen ungehindert in das unterirdische, seit Jahrhunderten extremst überwachte Reich des Kultes ein und platziert Bomben, die das gesamte Areal vernichten bzw. offen legen können. Nein, das ist wirklich aus meiner Sicht ein Blödsinn.

Aber gut, im Endeffekt zählen meiner Meinung nach die grundlegenden Ideen des Autors, und die sind - konsequent durchdacht - wirklich gut und mal wieder etwas neues im Einerlei der Science Fiction Literatur. Vor allem die weitreichenden Konsequenzen aus dieser Geschichte sind erst im Epilog erkennbar: Da stürmen in einer weit entfernten Zukunft Soldaten einen einsamen, namenlosen Felshaufen, irgendwo in der Galaxis. Die Kämpfer dringen in dessen innere Tunnels ein und finden dort eine nur mehr gering menschenähnliche Schwarmintelligenz vor, in Form von abertausenden, stinkenden Drohnen, die sich geistlos dem Lasersalven der Soldaten entgegenwerfen, um deren Brut zu schützen. Anscheinend hat sich der biologische Zweig des Homo Sapiens endgültig aufgeteilt, diesmal aus reiner psychischer Stärke von Generationen an Frauen des Kultes. Und das trotz seiner scheinbaren Vernichtung in den mittleren 2000er Jahren durch Pooles Freund.

Xeelee, Stephen Baxter, Heyne, Der Orden der Heiligen Maria, Michael Poole