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Rezensionen

Stephen Baxter: Flux (1998)

Neutronenstern

Dieses Buch handelt erneut in Baxter‘s Xeelee-Universum. Diesmal werden die Ereignisse einer menschlichen, an die vorherrschenden extremsten Bedingungen eines Neutronensterns angepasste Rasse erzählt. Diese Menschenrasse wurde entwickelt, um im Mantel eines Neutronensterns (!) ungehindert überleben und sich dort weiterentwickeln zu können.

Achtung, SPOILER-Warnung! Der folgende Text enthält eine Inhaltsbeschreibung des Buches.

Dura ist eine Ausgestoßene, sie lebt mit ihrer Gruppe am Rande eines Waldes besonderer, jedoch nicht näher beschriebener Bäume. Die Gruppe wird gleich zu Beginn von einer Naturkatastrophe, einem Quantensturm, heimgesucht. Viele verlieren dabei ihr Leben oder werden schwer verletzt, ihre Behausungen (schwebende Netze) sind vernichtet und so müssen die Erwachsenen neues Land suchen.

"Duras Welt war der Mantel des Sterns, eine gigantische Höhle mit weißgelber Luft, die unten vom Quantenmeer und oben von der Kruste begrenzt wurde."

(Quelle: Flux; Baxter, Stephen; 1998; S.18)

Die Welt in der diese Geschichte spielt ist spektakulär. Die Kruste des Sterns stellt die "Oberfläche" der Welt dar; das Quanten-Meer ist der unzugängliche Mittelpunkt; und der Mantel, einschließlich des menschlichen Habitats, ist die zwischen Kruste und Quantenmeer befindliche "Luft"-Schicht. Die Kruste des Neutronensterns ist eine dicke Matte, die mit purpurfarbenem Gras und Bäumen bewachsen ist. Eine Vielzahl sechsgliedriger Tierformen bevölkern die Flora des Sterns, da gibt es sogenannte Rochen, Spinnen und Herden wilder Luft-Schweine die als Transport- und Nutztiere gezüchtet werden. Weit unter der Kruste bildete das purpurne Quantenmeer den "Boden" der Welt. Als "Luft" dient ein Quantenfluid, das von gewaltigen Magnetfeldlinien durchzogen ist. Nach meinen Überlegungen "schwimmen" die Bewohner des Sterns in dem Fluid, das die innere Kruste (siehe Darstellung, unten) des Sterns ausmacht, die Äußere Kruste ist dann der vielzitierte "Mantel".

Dazu muss man wissen, dass ein Neutronenstern kein gleichförmiges Objekt ist, sondern höchstwahrscheinlich aus unterschiedlichen Schichten besteht, in denen auch Elektronen und Protonen vorkommen können. Über das Innere ist wenig bekannt - es ist noch immer ein Gegenstand aktueller Forschung. Im äußeren Kern vermutet man eine Art Flüssigkeit aus Neutronen und Elektronen. An der Oberfläche befinden sich hauptsächlich Atomkerne und Elektronen. Mit zunehmender Tiefe nimmt der Anteil der Neutronen in den Atomkernen zu und ab einer gewissen Tiefe können Neutronen frei auftreten.

Die Idee einer extrem miniaturisierten Welt im Mantel eines Neutronensterns ist interessant und ein ganz besonderes Gedankenexperiment, aber die literarische Darstellung dieser künstlich erschaffenen Menschenrasse ist meiner Meinung nach nicht immer kohärent durchgedacht und manchmal unglaubhaft. So ist ein Mensch in diesem Habitat etwa 10 Mikrometer groß. Dies ist ein derart winziges Maß, das kaum noch kleinere Einzelheiten möglich wären. Nehmen wir das Beispiel der Haare, Baxter schreibt von „Haarröhren“, geht aber nicht näher darauf ein, wie sich diese darstellen. Auch scheinen diese Menschen besondere Parabol-Augen zu besitzen, zudem ist das Äußere der Haut anders aufgebaut, dort öffnen sich Kapillare und die Geschlechtsorgane stecken in Hautfalten. Natürlich muss der gesamte Metabolismus an die extremen Bedingungen angepasst sein, aber vieles bleibt doch unerwähnt.

"»Mannhöhen? fragte er sich abwesend. Durchaus eine praktische Maßeinheit… aber was war gegen Mikrons einzuwenden? Eine Mannhöhe entsprach ungefähr zehn Mikron – ein Hunderttausendstel eines Meters – falls es das war, wonach es sich anhörte…«"

(Quelle: Flux; Baxter, Stephen; 1998; S.59)

 Diese Aufnahme ist eine Nano-Skulptur, ein Akt auf einem menschlichen Haar stehend, des Künstlers Jonty Hurwitz. Die ausgestreckten Arme haben eine Spannweite von etwa 80 Mikrometern. Die Skulptur ist somit acht mal so groß wie ein Miniatur-Mensch im Roman "Flux"
Bildquelle: Webseite von Jonty Hurwitz, https://jontyhurwitz.com/nano (01.12.2022)

Baxter versteht es, neue physikalische Entdeckungen in interessante Stories zu packen, aber mir kommt es als Leser oft vor, als ob er ab einem gewissen Level nicht mehr die Geduld haben würde, eine gewisse Logik beizubehalten. Wie soll sich denn dieses Leben abspielen, bei Temperaturen von mehreren Millionen Grad Celsius und Drücken von mehreren Millionen Tonnen pro cm³? 

Schnell wird der Leser in die Grundlagen der Mythologie der Menschenrasse eingeführt, das ganze Ausmaß des Geschehens und die genaue Einordnung der Geschichte in das Xeelee-Universum geschieht aber erst auf den letzten vierzig Seiten. Vor Jahrtausenden (das Buch spielt laut Baxter's Zeittafel im Jahre 193.700 n.Chr.) wurde das miniaturisierte Menschenvolk von den "riesigen" Ur-Menschen erschaffen, um im Neutronenstern überleben zu können. Dabei behielten sie jedoch die grundlegende menschliche Gestalt ihrer Erschaffer bei. Die Ur-Menschen statteten den Stern mit unfassbaren technischen Errungenschaften aus (heute sind diese Gerätschaften kaum mehr als vergessene Artefakte), damit die Miniaturmenschen ihren vorgegebenen Aufgaben nachkommen konnten. Schließlich verließen die Erschaffer den Stern. Lediglich deren autonome Abbilder (Uploads ihrer Selbst in virtuelle Umgebungen), die sogenannten Kolonisten, blieben zurück, wobei sie die Speicherkapazitäten des Sternenkerns für ihre Existenz und virtuelle Welten nutzten. Nach Jahrhunderten kam es zum Krieg zwischen den Kolonisten und den Miniaturmenschen, in dessen sehr kurzem Verlauf die gesamte Technik von den Kolonisten entfernt wurde. Nach der Niederschlagung der rebellierenden Miniaturmenschen, ging das meiste Wissen verloren. Erst gegen Ende des Romans erfährt der Leser, den Grund für dieses seltsame Habitat. Die Ur-Menschen befanden sich im Kampf mit dem Volk der gottgleichen Xeelee und planten, den Neutronenstern auf annähernd Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, um ihn als ultimative Waffe gegen Bolder's Ring, ein gigantisches Tor in ein anderes Universum, einzusetzen. Die Miniaturmenschen sollten dabei gemeinsam mit den Kolonisten die "Bordbesatzung" stellen.

Der eigentliche Inhalt ist rasch erklärt. Das Gleichgewicht des Neutronensterns ist außer Rand und Band, Gezeitenstürme rasen durch das Fluid und zerreißen die einzige noch intakte Stadt, die Miniaturmenschen stehen vor dem Ende ihrer Existenz. Nach langem Suchen entschließen sich Dura und der oberste Herrscher der Miniaturmenschen eine Expedition zu den Kolonisten Richtung Kern zu unternehmen, da sie dort die Antworten auf ihre Fragen erhoffen. Nach gefahrvoller Fahrt werden sie bereits von einer Kolonistin erwartet. Gemeinsam mit ihr gelingt es den beiden durch ein Wurmloch in die Schaltzentrale der Ur-Menschen, auf einem Planeten außerhalb des Sterns zu gelangen. Die Ursache der Instabilität liegt darin, dass die Xeelee das Sternengeschoß entdeckt haben und es nun mit Strahlenbombardements zu stoppen versuchen. Da auch die Kolonisten in ihrem virtuellen Habitat nicht vernichtet werden wollen, gelingt es, den Kurs des Sternes zu ändern, wobei auch die Strahlenangriffe eingestellt werden.

Der Roman endet recht optimistisch. Die noch aktiv agierenden Kolonisten haben den Miniaturmenschen verziehen, in entfernten Regionen sollen die verschollen geglaubten Technologien gelagert sein und auch ein Verlassen des Sterns scheint in Zukunft machbar sein.

"»Weshalb sollte es überhaupt einen Weg geben?« fragte Adda zynisch. »Schließlich ist dieser Stern eine lebensfeindliche Umgebung. Die Störfälle sind der beste Beweis dafür. Es gibt keine Garantie, daß wir unseren Entwicklungsstand jemals wesentlich steigern werden. Immerhin haben die Ur-Menschen unseren Tod einkalkuliert, als sie uns im Stern aussetzten; in ihren Augen hatten wir keine Zukunft.«
»Vielleicht«, sagte Muub lächelnd. »Vielleicht auch nicht. Was, wenn die Ur-Menschen überhaupt nicht beabsichtigt hatten, daß wir beim Zusammenstoß des Sterns mit dem Ring vernichtet würden? Was, wenn die Ur-Menschen uns einen Fluchtweg aus dem Stern offengehalten haben?«
»Wie das Wurmloch zum Planeten...«, sagte Dura."

(Quelle: Flux; Baxter, Stephen; 1998; S.363)

Xeelee, Stephen Baxter, Heyne